In See stechen
Ich habe ein Lieblingsbuch. Es heißt „Sam und das Meer“. Tausende Male habe ich es meinen Kids vorgelesen, bis ich es auswendig aufsagen konnte, weil es eine tiefe Wahrheit auf eine so traumhafte Weise erzählt. Die Geschichte ist kurz und knackig und lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Sam träumt vom Meer, baut sich ein Boot und sticht in See. Punkt.
Lebenslanges Wachsen
Wieso schreibe ich darüber? Die derzeit wohl schönste und intensivste Wachstumsaufgabe meines Lebens sagt zu mir manchmal so Dinge, wie: „Ich bin ein Seemann, Babe! Ich kann wochenlang alleine sein und brauche Dich nicht! Wenn Du das nicht mehr aushältst, sei so ehrlich und sag mir Bescheid, ja!“ Ob das dann dazu führen wird, dass er in See sticht und mich vergisst oder seinen Einmaster für immer in meinem Hafen parkt, habe ich bisher noch nicht herausgefunden.
Heilige Pforten
Aber wenn er das sagt, dann weiß ich, ich bin auf seinem Schiff herumgestromert, dem Maschinenraum irgendwie ein Stückchen zu nahe gekommen und jetzt wird die Kommunikation wieder etwas dünner, obwohl der Seemann um mehr Funkverkehr bat. Meistens war kurz zuvor alles übermäßig tutti und der Satz fühlt sich ein wenig so an, als würde ich auf einer wunderweichen Wolke schweben, die sich plötzlich unter mir auflöst.
Hyänen am Wegesrand
Es ist nichts mehr da zum Festhalten und Fallen folgt dem Fallenlassen. Manchmal spüren das die Menschen um mich herum – meine Entkopplung und das Ringen damit und sagen: „Du scheinst ihm ja nicht so wichtig zu sein!“ Infolge ringst Du dann zusätzlich mit den Einflüsterungen Deiner Liebsten, die schön langsam und hübsch subtil platziert ins Gewebe sickern. Versteckte Ziele kommen in den besten Familien vor.
Anschauen, Loslassen, Weitergehen
Es braucht daraufhin eine Weile bis ich endlich meine Toolbox öffne, um mir einen Nagel durch den Zeh zu treiben, damit mein Fokus auf etwas anderes fällt. Ist der Nagel rausgeeitert, werde ich wieder fliegen lernen. Zum Glück habe ich gute Selbstheilungskräfte.
Die raue See
In meiner Familie gab es mehrere Seefahrer und infolge jede Menge mieses Karma. Mein Urgroßvater war Fregattenkapitän. Mein Großvater fuhr ebenfalls im Krieg zur See. Später hat er Schiffe gebaut. Einer meiner Onkel ist auf See gestorben. Seine ungezählten vor Zerrissenheit triefenden Briefe habe ich für meine Groma abgetippt und als Buch gebunden, weil sie sich im Alter so gerne daran festhalten wollte.
ICH BIN
Mein Vater ist Segler und auch ich habe als Kind die Wellen bezwungen, wenn sie nicht schneller waren. Als Seemann wirst Du nicht geboren, genau so wenig wie als Bäcker oder Hersteller von Unterhosen… es ist eine Wahl und viele Menschen sind zur See gefahren, weil sie am Schild ‚Hafen‘ aus einem State heraus diesen Weg einschlugen. Viele waren zu der Zeit völlig unbeleckt, andere flohen vor einem Drachen und nicht wenige haben es bereut.
Komm an Bord
Viereinhalb Monate habe ich auf einem Zweimaster gelebt und weiß, wie einsam die Menschen an Deck sind. Die unerfüllte Sehnsucht nach Zweisamkeit, nach Ankern, nach Ankommen hat sie gezeichnet und ihre Züge hart gemacht. Die Angst, die Liebe zu leben und zu versagen hat sie aufgezerrt. Sie sind so einsam, dass die Alkoholindustrie ihnen ein Dank-Mal setzen müsste und ihr Hauthunger sucht seinesgleichen.
Gelungene Bildsprache
Sam hingegen ist eine Metapher dafür, Deinen freien Geist zu erhalten, um Deine Unabhängigkeit leben zu können, Deine Projekte zu verfolgen, Du selbst zu sein wider alle Hindernisse, Risiken und Nebenwirkungen. Aber das heißt nicht, niemanden zu brauchen und alleine die Welt zu entdecken. Seemenschen sind nie allein. Im Gegenteil. Sie sitzen sich auf der Pelle und gehen sich auf den Sack, weil sie sich trotz Mannschaft gemeinsam einsam fühlen.
Einsam/Zweinsam
Du kannst zu vielen, zu zweit oder ganz alleine einsam sein. Und man könnte meinen, dann sei es eigentlich auch egal. Doch ist dies ja wieder Deine Entscheidung, Deine freie Wahl. Sorgst Du für Pep in der Partnerschaft, suchst das Gespräch, zeigst, was Dein Gegenüber Dir bedeutet? Hast Du Interessen, eine kindliche Neugier auf das Leben und kannst Du Dich genießen? Oder klemmst Du ängstlich am Riff und das Wasser sickert bereits in die Ladung…
Ich kann nicht anders
„Ich bin halt einfach ein Seefahrer auf rauer See“ ist auch nichts anderes als ein gewählter Wert, ein Image, allerdings nur so lange, bis Du Dir Dein Seemannsgarn durch Dauergedanken unwiederruflich ins Hirn geknotet hast. Dann ist es eine Konditionierung, ein Label, ein Imprint, den Du, selbst wenn Du willst und bei günstigsten Klimabedingungen, nicht mehr so schnell umschiffen kannst.
Der Nachteil der Kompetenz
Dann musst Du erst durch die Ozeane der Angst, um zur Werkseinstellung zurückzusegeln, denn mit dieser unbewussten Kompetenz, Dich automatisch vor Gefahren zu schützen, die vermeintlich in der Zweisamkeit lauern könnten, endet auch Deine Freiheit.
Ich bin. Ich bin. Ich bin.
Es ist eine Sache, sich ein Label aufzudrücken, um nach außen Unbesiegbarkeit zu verkörpern und eine völlig andere, sich darauf auszuruhen. Willst Du eine lebendige Partnerschaft leben anstatt einer unkompliziert-oberflächlichen Langzeit-Fernbeziehung, dann ist es wichtig, die Verbindung zu halten, einander wirklich zu sehen und sich gegenseitig zu zeigen, wie wertvoll dieses Band ist.
Selbst Verantwortung??!
Und das braucht Monstermut; den Mut, ein Leben ohne Hilfs-Etiketten, Notausstiege und Beiboote zu führen. Dieses Wagnis einzugehen bedeutet in meiner Welt die Übernahme echter Selbstverantwortung.