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Gurismus

Anders als man denkt

Ein Bekannter hat eine dicke orange Frau auf seinem Altar stehen, der im Übrigen überquillt, unter anderem mit Dingen, die entfernt an Toys für die Großen erinnern, die einer die Schamesröte ins Gesicht treiben und unwillkürlich Bilder extravaganter Sexpraktiken hervorrufen.
Allerdings, so musste ich lernen, handelt es sich gar nicht um eine Frau, sondern um den berühmten „Baba Chi“, den großen Sai Baba. Soso.
Und bei den Toys handelt es sich auch nicht um Toys, sondern um Shivalingams, die „nur die Vereinigung von Shiva und Shakti symbolisieren!“ Hört, hört.

Sinn oder Nichtsinn

Der Altar bringt mich jedes Mal zum Nachdenken, wobei ich Opferstätten generell eher kritisch betrachte. Nicht nur, das mich verschiedene spirituelle Größen auf Schritt und Tritt beobachten und – wer weiß schon, ob die wirklich alle so wertfrei sind – vermutlich sogar beurteilen, frage ich mich unwillkürlich nach seinem Sinn.
Mein Bekannter würde sagen, die diversen Dinge und Porträts speichern Energien, ich würde sagen, sie speichern sichtbar Staub, was ja wiederum seine These verifizieren würde:
Energien laden Dinge statisch auf und statische Aufladung führt zur Anziehung feinster Stäube, die wir dann später einatmen, wenn wir ihn aufwirbeln, weil die Energie nachlässt… damit das nicht passiert, muss er täglich vor seinem Altar meditieren, damit sie den Pegel halten und wir gesund bleiben. Meistens tut er das sogar…

Heilige Invasion

Die dicke Frau ist mittlerweile auch noch an anderen Orten in seiner Wohnung aufgetaucht, etwa auf einer eingestaubten, also schwer energetisierten Tasche, die in seinem Wohnzimmer hängt. Ich finde sie sehr invasiv.
Aber sie hat schließlich eine Berechtigung dort zu hängen, so als amtlich beglaubigte Reinkarnation einer indischen Heiligkeit.

Von T-Shirts und Kugelschreibern

Inzwischen gibt es einige solcher ehrfurchtsgebietenden menschlichen Schreine, die Reisende allerorten in Ekstase versetzen. Die Suche nach dem Guru ist im Westen ein anerkanntes Motiv, was zu einem wahren Guru-Boom, begleitet von einer nie enden wollenden Merchandisingwelle geführt hat – Gurus lächeln heute nicht nur von Altären, sondern auch von Dosen, von Kaffetassen, von T-Shirts und Kugelschreibern… so verehren viele den gleichen Guru, ohne überhaupt voneinander zu wissen… mir drängen sich dann immer Gedanken an Boy-Groups und Mainstream-Idole auf, aber das ist natürlich an den Haaren herbei gezogen… die tun ja nichts Gutes…

Wem soll ich vertrauen?

Aber was macht einen guten Guru überhaupt aus? Oder anders gefragt: gibt es schlechte Gurus? Und wie erkenne, ob es der Richtige für mich ist? Muss er auf einer Postkarte zu sehen sein? Reicht es, wenn er mir sagt, dass er einer ist? Oder wenn das jemand von ihm behauptet?

Mein Guru, Dein Guru

Ganz einfach! Du wirst ihn erkennen, wenn Du bereit bist und ein schlechter Guru tut vermutlich nicht gut. Ein guter Guru hingegen weiß, was gut für Dich ist, weil er selbstverständlich sein Leben lang selbst nur Gutes getan hat. Mit seinem langen Atem leitet er Dich geduldig, vorbei am Ozean unnützer, Deinem schwachen Geist entsprungener Schäume, durch die Dunkelheit Deiner Seele ins Licht der Erleuchtung. Manche würden das von ihrem Laptop auch behaupten, besonders nachts unter der Bettdecke, aber einen Laptop hat man oder hat man nicht. Je nach Ausstattung muss man halt etwas tiefer in die Tasche greifen. Mit einem Guru verhält sich das etwas anders, wobei manche es sich auch etwas kosten lassen, auf ihre baldige Illumination hinzuweisen, denn mit Gurus ist es zeitweilen wie mit allen Objekten, die der Eitelkeit schmeicheln… wieso solltest Du sie besitzen, wenn Du nicht hin und wieder mit ihnen prahlen kannst… und da gibt es ebenfalls besser und nicht so toll ausgestattete Guru-Modelle…

Zwickmühle oder die Qual der Wahl

Aber kann man einen Guru eigentlich haben? Oder doch nur seine Autogramm-Karte? Und wie bekommt man den überhaupt?
Einen Guru musst Du finden… also eigentlich suchen… „wer suchet, der findet“, hieß es so schön, aber ganz so einfach ist es lange nicht mehr… denn wir sind wieder einen Schritt schlauer und um heute etwas zu finden, musst Du aufhören zu suchen… das wissen wir inzwischen… also loslassen… doch wie lasse ich etwas los, wenn ich keinen Guru habe, der mir sagt, wie das geht… ich könnte vielleicht im Laptop in der Google-Leiste…
Da lernen wir dann „Loslassen beginnt mit einem einzigen Satz: Ich bin bereit loszulassen!“ Oh… also lieber doch der Guru?

Gurumination

Woran erkenne ich denn einen echten Guru? Leuchtet er in der Dunkelheit? Thront er einsam und allein hoch oben im Himalaya? Was, wenn er, im strengen Eigengeruch, bei Kälteeinbruch, nachts nebenan in der Sparkasse liegt, umrahmt von Zigarettenschachteln, die ihm seine Jünger beschämt hingelegt haben, während er schlief, woraufhin sie sich gleich ein wenig besser fühlten? Würdest Du seinen Rat annehmen, der Atem alkoholgeschwängert, die Finger in Lumpen gehüllt?

Hare Om

Und der Guru, dem die Scharen zu Füßen liegen, der nicht nur alle Menschen küssen, sondern nebenbei auch noch für Postkarten posieren muss… wird er Dir helfen können, Deinen ganz eigenen Weg zu gehen?
Steckt nicht in allen von uns ein kleiner Guru mit hilfreichem Erfahrungsschatz, der manchmal mehr, manchmal weniger eigennützig bereit ist, Dir zur Seite zu stehen?

Und jetzt?

Eine Draufsicht von außen ist sicher eine Hilfe, wenn Du in der Klemme steckst, doch am Ende ist der Rat einer außenstehenden Person nichts weiter als eine Schablone, in die Du niemals komplett hineinpassen kannst.
Die Entscheidung, welchen Weg Du gehst, wirst Du am Ende doch allein treffen müssen, denn wer kennt Dich besser und kann Dir besser sagen, was gut für Dich ist…
… vielleicht solltest Du statt eines Gurus lieber Dich selbst finden.