Habe ich Dir doch gesagt
Ich kenne einen Mann, der mein Herz bis an den Rand des Erträglichen schlagen lässt, obwohl ich doch jahrelang gelernt habe, meine Atmung und damit meinen Herzschlag zu regulieren. Damit eröffnet sich mir nicht nur ein neues Übungsfeld, sondern zugleich die Erkenntnis, niemals angekommen zu sein. Und das lehrt mich Demut und Flexibilität. – Relativ zu Beginn unserer Begegnung verriet er mir, er sei schrullig. Ich war schockiert über diese Art der Selbstentwertung. Er war sich seiner Außenwirkung offensichtlich nicht bewusst. Ob er mich damit abschrecken wollte? Oder sich vorsichtshalber schon mal entschuldigen? So nach dem Motto: „Habe ich Dir doch gesagt!“
Unwillkommene Saat
Tatsächlich erwische ich mich seitdem sehr häufig dabei, dass ich über seine „Schrulligkeiten“ nachdenke und darüber, was er damit über sich selbst aussagt. Und ich frage mich jedes Mal unweigerlich, wie tief andere Menschen ihn mit ihren unachtsamen oder auch gezielten Bewertungen verletzt haben müssen. Denn eindeutig ist es eine eingepflanzte Aussage…
– eine Aussage, von Menschen gesäht, die sich an seinen Ecken und Kanten, ja in den Spalten selbst verloren haben, weil sie den großen Wert und die Einmaligkeit, die darin ruht, nicht schätzen konnten… nicht verstanden, dass seine Gefühle, Verhaltens- und Denkweisen gar nichts mit ihnen sondern nur mit ihm selbst zu tun haben.
So wie ich
Viele treffen solche Aussagen über sich selbst. Auch ich erwische mich hin und wieder kopfschüttelnd dabei. Ich frage mich an dieser Stelle, warum Menschen durch diese Welt gehen und versuchen andere Menschen ihrem Verständnis der Dinge anzupassen, wo doch eindeutig jeder sein eigenes Verständnis der Dinge mit sich bringt und es hasst, verändert zu WERDEN. Wir könnten stattdessen einfach bei uns bleiben und denken: „Er tut das… SO WIE ICH!“ Denn stoßen wir nicht alle automatisch an die Grenzen anderer, sobald wir uns in Bewegung setzen? Und gibt es DIE EINE GRENZE überhaupt?
Operation am offenen Sein
Am beeindruckensten finde ich, dass dieser Anpassungprozess bereits vor dem ersten Atemzug beginnt, weil die wenigsten Erwachsenen im Laufe ihres Lebens gelernt haben, ihren Erwartungen entgegenstehende Unterschiede auszuhalten, sie in Folge als Angriff, als Trennung und damit als Störung empfinden, die logischerweise umgehend beseitigt werden muss, was im Grunde gegen die Menschenrechte verstößt. Der dem folgende Eingriff in unser Selbst fällt uns ergo häufig nicht mal auf, weil wir konditioniert sind, ihn als Selbstverständlichkeit wahrzunehmen und gelernt haben, den Bedürfnissen anderer Folge zu leisten.
Mentales Gym
Aber ist es eine Selbstverständlichkeit? Du wirst mit unermesslichen Entfaltungs-Spielräumen geboren, die mit jedem Tag ein wenig zusammenschrumpfen, weil Dein Umfeld Dein Schreien, Deine Manier zu essen, die Art und Weise Dinge zu sehen oder danach zu fragen, Dein Aussehen, Dein Auftreten, Dein ständiges Nein- oder Jasagen, Dein Sozialverhalten, Deine Lautstärke, Dein Schweigen, Deine Bedürfnisse, Deine Lösungsversuche, Deine Angebote … ja, je nachdem, wo Du Dich gerade befindest, reihum alles an Dir kritisiert und beständig erwartet, dass Du Dich den vorgegebenen Rahmenbedingungen anpasst, die Du meist nicht mal mitgestaltet hast.
Soziale AGBs
In vielen dieser sozialen AGBs verstecken sich kollektive Annahmen und Werte, von denen niemand sagen kann, ob sie dem 15. Jahrhundert oder einem Erziehungsbuch der 30-er Jahre entstammen. Andere werden aus einer Laune heraus oder einer Angst geschuldet spontan aus dem Hut gezaubert, in der Kindheit von einer Betreuungsperson, später dann vom Partner oder der Partnerin… ganz wohlwollend natürlich… und allesamt sind sie somit einem gefühls- wie situationsbedingten Wandel unterlegen… heute so, morgen so…
Anerkannte Verstümmelung
Änderst Du Dich nicht, krempeln selbst ‚liebende‘ Menschen die Ärmel hoch und richten ihren Röntgenblick so lange auf diesen Punkt, bis er sich verdichtet und in ihr Herz brennt. Und plötzlich werden sie blind für alles Schöne an Dir. – Du kannst es ergo nicht richtig machen, weil es richtig gar nicht gibt. Du kannst nicht jedem gefallen. Es wäre Wahnsinn, es zu versuchen. Warum also sollte sich irgendjemand irgendjemandem anpassen? Am Ende bis zur völligen, wenn auch einer anerkannten Form der Selbst-Verstümmelung? Warum werden unsere Unterschiedlichkeiten so oft als schrullig und nicht als Bereicherung verstanden? Warum stolpern wir eigentlich selbst immer wieder in diesen Bewertungskreislauf hinein und wie können wir das loslassen?
Spieglein, Spieglein, …
Es gibt in meiner Welt nur eine Art, diesen Zirkel zu durchbrechen: an dieser Station aussteigen! Wenn ich mich an anderen störe, dann halte ich einen Spiegel in Händen und es ist meins, herauszufiltern, an welcher Stelle die zurückgeworfenen Reflexionen Wunden wie blinde Flecken in meinem Inneren entblößen, die zu sehen Heilung bedeutet, die mich unweigerlich ein Level weiterbringt. Im gleichen Atemzug schärfe ich wie von Zauberhand meinen Blick auf die Versuche anderer, mich zu verändern.
One Up!
Auch das ist für mich Yoga: genau dorthin zu gucken, wo ich mich beim Einschachteln anderer beobachte, weil ich mich überflüssigerweise mal wieder zu sehr mit meinen eigenen Ideen identifiziere. Und zeitgleich zu bemerken, wenn ich dabei bin meine eigenen Grenzen zu übertreten, indem ich versuche, mich für andere zu verbiegen und anzupassen, mich zu vergleichen und kleinzufalten.
Im Yoga geht es mir darum, mich auszudehnen und meine wahre Größe zu erlangen, zu verstehen, dass ich grenzenlos, also eigentlich gänzlich ohne Grenze bin – SO WIE DU.
Jede Grenze ist handmade! Drum Freiheit den Schrulligkeiten!