ZUGFAHREN
Ich steige am Karlsruher Hauptbahnhof in den Zug. Nach Berlin kannste das schon mal machen. Ist im Auto ja fast noch unberechenbarer als Bahnfahren in Deutschland und wenn Du früh genug buchst sogar um Ecken günstiger.
LECKER CHILI AUS DER KOMBÜSE
„Chili(g) wird’s im Bordbistro“, lese ich beim Einstieg. Aber hier ist es auch ganz okay. Fast leer. Das wird ein Zuckerschlecken. Mit meiner riesiglangen Taschen kämpfe ich mich durch den Mittelgang zu meinem Platz im Ruhebereich und bleibe gefühlt ÜBERALL hängen. Touché! Hätte ich doch bloß eine kleinere Hülle gewählt. Vermutlich werde ich nicht mal die Hälfte der Dinge brauchen.
MEIN PLATZ, DEIN PLATZ
Auf meinem reservierten Fensterplatz in Fahrtrichtung sitzt eine junge Frau. Ein bisschen so wie im Kino, wenn die Leute in der Mitte keinen Sitz mehr bekommen haben und sich dann einfach trotzdem dort hinpflanzen. Sie sieht nett aus. Ich überlege einen Moment, mich neben sie auf die Gangseite zu setzen, weil irgendwas in mir auch vorwärts fahren will. Dann gewinnt das Fenster und meine Bescheidenheit. Ich werde mich von meiner Sonnenseite zeigen und rückwärts fahren.
ZUGGESPRÄCHE
Es dauert nicht lange, dann kommen wir ins Gespräch. Sie hat auch kinderfrei und Mädelz-Wochenende in Kassel. Na also. Geht doch. Wir machen halbe halbe. Sie erzählt weiter, doch eigentlich wollte ich arbeiten und sie muss für eine Prüfung lernen. Also kehrt in der Stillezone schließlich Ruhe ein und wir tauchen in unsere ganz eigenen Universen ab.
SELBST UND VERANTWORTLICH
Ebenfalls rückwärts fahrend auf der anderen Gangseite sitzt eine ältere Dame neben einem jungen Mann, der in digitalen Räumen abgetaucht ist. Bisher war sie mir gar nicht aufgefallen. Nun bittet sie ihn, sich wegzusetzen, weil ihre Füße in der Klimatisierung des Zuges einen Zug bekommen und sie sie hochlegen muss. Grummelnd zieht er Leine. Der Homo Sapiens und sein Revierverhalten. Immer wieder interessant.
VON SEIFENBLASEN UND TENNISBÄLLEN
Nur 2 Stationen später, in Frankfurt am Main, ist der Waggon plötzlich gefüllt. Aber die Leute halten sich an die Vorgaben, nur hin und wieder hörst Du ein leises Tuscheln, ein Rascheln oder einen Klingelton. Ich seufze wohlig. Der Zug setzt sich gerade wieder in Bewegung, da tritt ein älteres Ehepaar durch die Automatiktür. „Na, mach doch schon, Egon!!! Guck mal, hier finden wir bestimmt noch einen Platz!“
ALARMSTUFE KNALLROT
Im ersten Moment denke ich „OH GRAUS!“, im 2. überlege ich mich zu Sabine rüber zu teleportieren, damit die beiden nebeneinander sitzen können. Aber will ich, dass die beiden zusammenhocken und die ganze Zeit quatschen? Und will ich mein ganzes Zeug evakuieren? Nein! Ich bleibe, wo ich bin. Ein Mann kommt von der anderen Seite und besetzt den Sitz neben Sabine. Gut!
HALLO, HIER BIN ICH
Die Frau hat eine unangenehme Aura und erzählt jetzt dem ganzen Waggon sowie der Dame gegenüber im Besonderen, dass sie nirgendwo sitzen durften und sich jetzt hier niederlassen werden, koste es, was es wolle. Widerwillig nimmt unsere Nachbarin ihre eisgekühlten Füße vom Sitz. Damit ist es besiegelt.
UNSICHTBARKEITSZAUBER
Ich versuche den leeren Platz neben mir unsichtbar zu machen. Leider bin ich nicht Hermine. Die Frau entdeckt den freien Sitz und zeigt herüber: „Guck, Egon! Du setzt Dich da hin!“ Er setzt sich. Auf meiner Seite des Tisches habe ich meine Arbeits-Unterlagen ausgebreitet. Ich rücke sie ein wenig näher an mich heran, aber er scheint den Tisch nicht zu brauchen, was mich dazu verleitet, noch immer zwei Drittel zu belegen.
ALLTAGSHÜRDEN
Die Frau quatscht und quatscht in einer Lautstärke, die mir allmählich innerlich einheizt, mit Egon über den Gang, dem das peinlich ist und mit ihrer Sitznachbarin, die ihre Stimme verschluckt hat. Alle gucken, niemand sagt etwas. An den Seiten des Waggons steht das Wort „Stille“ in allen nur erdenklichen Sprachen. Nicht in ihrer.
STILLE
Ich überlege, mir einen anderen Platz, weit weg von hier zu suchen und entscheide mich dagegen. Ich werde das Feld nicht räumen. Schließlich fahre ich bereits verkehrt herum! „Entschuldigung, das hier ein Stillebereich! Würden Sie bitte etwas leiser reden?“ Bestätigendes Murmeln von allen Seiten. Göttin, wann bin ich eigentlich Teil der Spießergang geworden?
DAS KRIEGSBEIL
Erbost dreht die Frau sich um. Wie kann jemand?! Ihr Blick ist eine Kampfansage. Ich ärgere mich über so viel Ignoranz und so wenig Feingefühl. Allerdings hatte meine Ansage die gewünschte Wirkung. Ein mentales Heftpflaster. Ich atme tief durch. Heftpflaster halten in der Regel nicht so lange. Sie schaut nun immer wieder zu mir und ihrem Mann herüber. Ihr Nacken wird davon steif werden, denke ich voller Genugtuung. Auweia! Wie kann ich mich so herablassen. Ich atme noch einmal tief durch und blende sie aus.
ZIVILER UNGEHORSAM
Gerade zurück im Flow… BÄM!!!… ereilt mich ihr Gegenschlag. „Egon! Jetzt leg doch mal Deine Arme auf den Tisch.“ Er will aber nicht. Lehnte offensichtlich sehr bequem und träumte selig davon, wie er den Rest seines Lebens mit dieser Frau im Stillebereich Bahn fährt. Um seine Arme auf dem Tisch zu platzieren, müsste er sich unbequem aufsetzen. Vorsichtshalber ziehe ich meine Unterlagen ein Stück näher an mich heran, so dass sie halb unter meinem Netbook verschwinden. Ab hier wird die Arbeit fühlbar anstrengend.
SUCHPROZESS
Mein Hirn schaltet in den Lösungsmodus. Soll ich auf diese Subversivität reagieren? Ich könnte so etwas sagen wie: „Aufgrund von Menschen wie Ihnen habe ich extra zwei Plätze reserviert. Sie dürfen aber trotzdem gerne hier sitzen!“ Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt möglich war, als eine Person 2 Plätze zu reservieren , aber ich war mir sicher, DIESE Person findet das heraus – nur aus Prinzip. Also brauchte ich Plan B.
WAS TUN
Chilli im Bordrestaurant kann kaum schlimmer sein. Tausende von Optionen ploppen auf einmal auf: Aussitzen; Friedensfahne; Platzwechsel, damit sie bei Egon sitzen kann; ihr sagen, dass es kein Wunder ist, dass niemand sie liebt; woanders hinsetzen, fernab vom Geschehen; aus dem Zugfenster springen; …
Noch ehe ich zu einem annehmbaren Ergebnis gefunden habe, steigt sie erneut in den Ring und blafft Egon an: „So, jetzt reicht es aber. Dann lass mich jetzt da sitzen. Ich will meine Arme auf den Tisch legen!“
MATT
Wie grenzenlos peinlich, aber wirksam, denke ich. Jetzt bin ich neugierig, was passiert:
Egon, der Widerspenst wird zum Umzug verurteilt und sie platziert ihre Unterarme neben meinen Unterlagen auf dem Tisch. Scheinbar traut sie sich nicht, die letzte Bastion zu sprengen und meine Sachen ganz wegzuschieben, um die ihr zustehende Hälfte einzufordern. Und ich werde sie ihr nicht mehr einfach so überlassen.
ALLES GEHT ZU ENDE
Auf einmal kehrt wieder Ruhe ein. Es gibt keine Weichen mehr, die sie stellen kann. Sie hat verloren. Befriedet tippe ich weiter. Ich bin mittlerweile dabei eine Email an eine Freundin zu schreiben, in der ich von dieser Impertinenz berichte. In seniorengeeigneter Schriftgröße. Mit einem inneren Lächeln quittiere ich, dass sie herüberschielt.
ALLEIN ENTSCHEIDEN
Nächste Station Kassel-Wilhelmshöhe. Sabine verabschiedet sich mit einem Zwinkern und einem Flüstern. Die Frau nimmt ihre Arme vom Tisch, um sich bequemer hinzusetzen. Soll ich jetzt meinen Fensterplatz besiedeln? Dann müsste ich an dieser armen besiegten Wurst vorbei und ihr vermutlich den Rest der Fahrt ins Gesicht blicken, weil sie auf meinen Fensterplatz wechselt und Egon zu sich zitiert. Nein, danke!
ICH HABE DIE WAHL
Mindestens eine Stunde lang habe ich mein System mit giftigen Gedanken geflutet und irgendwo ganz tief drin schäume ich vor Missgunst. Eigentlich müsste ich grüne Pusteln bekommen oder hektische Flecken, aber die bleiben zum Glück aus. Ich erinnere mich wieder daran, dass ich die freie Wahl habe, welche Energiesignatur ich in den Räumen zwischen der Zeit hinterlasse, schließe meine Augen, schicke einen Cocktail aus Dankbarkeit durch meine Adern und lasse ihn in meine Energiewolke ausströmen. Mit einem befriedeten Lächeln auf den Lippen schlafe ich ein. Als ich wieder aufwache, sind Egon und die Frau spurlos verschwunden. Vielleicht hat sie so viel Positivität in die Flucht geschlagen. Vielleicht mussten sie auch einfach nur aussteigen.